Fahrverbot vor 120 Jahren
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Fahrverbote sind keine "Erfindung" unserer Zeit


Kraftfahrzeug-Fahrverbot im Amt Neuhaus/Oste um 1900

Diese wahre Geschichte hat sich vor ca. 120 Jahren in Neuhaus an der Oste abgespielt. Neuhaus war damals der Kreissitz des Amtes (Landkreises) Neuhaus/Oste in der preußischen Provinz Hannover, der 1932 aufgelöst wurde. Er ging im Kreis „Land Hadeln“ auf, dessen Gebiet heute zum Landkreis Cuxhaven gehört. Dieser Landkreis ist übrigens flächenmäßig ungefähr so groß wie das Saarland und reicht vom Großraum Hamburg entlang von Elbe und Weser bis wenige Kilometer an Bremen heran. Mittendrin ist mit der Stadt Bremerhaven auch noch ein Stück vom Bundesland Bremen. Der „Flecken“ Neuhaus ist heute ein Ort in der „Samtgemeinde Land Hadeln“ und hat eine bewegte über 600-jährige Geschichte. Er liegt in einer reizvollen ursprünglichen Marschenlandschaft am linken Ufer der Oste, dem längsten Nebenfluss der Elbe. Mit der Deutschen Fährstraße und dem Elberadweg kreuzen sich hier zwei bundesweit beliebte Radfernwege. Die Entfernung zum Weltschifffahrtsweg Elbe beträgt nur wenige Kilometer.  Das „Natureum Niederelbe“ – ein Museum mit Erlebnispark, direkt an der Oste mit dem Ostesperrwerk gelegen, lädt immer wieder zum Entdecken von Natur und Küstenlandschaft ein. Besonderheiten des malerischen Ortskern sind vor allem die Deichstraße mit der Bebauung direkt auf der Deichkrone, sowie die vielen kleinen und großen Brücken, welche dem Flecken auch den Beinamen „Venedig des Nordens“eingebracht haben. Im Ort fallen zahlreiche große historische Gebäude auf. Dazu gehört auch das ehemalige Amtshaus, in dem eine der Hauptpersonen der folgenden Geschichte residierte. In dessen Nähe befindet sich das ehemalige Amtsgericht, dem sogar ein Gefängnis angegliedert war. Die Zellen wurden noch bis 1970 für kleinere und mittlere Strafen genutzt. Auch das „Brauhaus Alt Neuhaus“ nahe der Kirche ist einen Besuch wert. Mit „Cronemeyers“ (Helles und Dunkles) werden zwei Sorten selbstgebrautes Bier angeboten. Im angegliederten historischen „Schnapsladen“ gibt es eine breite Palette an selbstgebrannten Spirituosen. Nach drei Jahren Vorbereitung war es Anfang Juni 2019 so weit: Olaf Schlichting, Inhaber der Firma Ulex Nachfolger, konnte seinen selbst hergestellten Single Malt Whisky „Ulex Single“ vorstellen. „Alkohol wird in einem langen Prozess zu Whisky destilliert und gebrannt“, erläutert seine Tochter Silka. „Erst nach drei Jahren Lagerung darf man ihn Whisky nennen.“ Da er in verschiedenen Eichenfässern lagere, sei jeder ein Unikat, und es könnten sich unterschiedliche Aromen ausbilden.

Das folgende originelle Geschehen zeigt auf, dass die Diskussion um KFZ-Fahrverbote schon damals ein Thema war

Im Archiv des Landkreises Cuxhaven findet sich das offizielle Dokument zu einem Fahrverbot, welches dieser Geschichte zugrunde liegt. In deren Mittelpunkt steht der von Münster in Westfalen nach Neuhaus versetzte Regierungsrat Otto Heidborn. Er war der Sohn eines Spielkartenfabrikanten aus Stralsund, nicht verheiratest und sehr begütert. Heidborn galt als wahrer Pferdenarr, leistete sich mehrere Reitpferde und beschäftigte sogar mit Claus Tiedemann, den Vater von Bäcker August Tiedemann, einen Reitknecht. Der wohnte an der Straße „Herrlichkeit“, die es auch heute noch gibt. Claus Tiedemann pflegte die Heidborn Pferde und zu seinen regelmäßigen Pflichten gehörte auch, dass er die Pferde durch einen Ritt in die Umgebung bewegte und sie jederzeit für private und dienstliche Ausritte seines Chefs bereithielt. 

Bei einem der morgendlichen Bewegungsritte geschah es, dass eines der Pferde, nämlich die Stute „Nora“, vor dem Haus des Maurermeisters Lührs in der Deichstraße wegen eines hupenden „Automobils“ zur Seite sprang und sich am rechten Vorderhuf eine Verletzung zuzog. Tiedemann drehte um und kehrt mit den Pferden in den Stall zurück. Am Nachmittag hatte Landrat Heidborn einen Termin wegen eines Wasserlaufes in Geversdorf-Laack, einem Ort im Amt Neuhaus. Den wollte er zusammen mit dem Baurat Abraham absolvieren, der das Wasserbauamt leitete. Heidborn gab Tiedemann den Auftrag, für den Ritt dorthin ausgerechnet die besagte Nora zu satteln und vorzuführen. Der Reitknecht brachte nun stammelnd vor, was ihm morgens passiert war und dass das Pferd nicht Verfügung stehe. Stark verärgert und mit aufbrausenden Worten lehnte Heidborn das Angebot ab, eines der anderen Pferde zu satteln. Nachdem er sich die Hufverletzung angeschaut hatte, sagte er den Lokaltermin in Geversdorf ab. Nachdem Tiedemann noch einmal eindrücklich bestätigt hatte, dass die
Hufverletzung der Nora durch ein Autosignal verursacht sei, verfügte Heidborn auf einem in den betreffenden Akten noch heute vorhandenen Blatt eine Verfügung, zu der der Amtsbote Theodor Zürens den Auftrag erhielt, diese dem damals auf dem Landratsamt als Registrator beschäftigten Peter von Thaden mit dem Zusatz zu überbringen, dass die geforderte Akte sofort herausgesucht und dem Chef vorzulegen sei.
Dieses geschah und schon am nächsten Tag erschien in der Neuhaus-Ostener Zeitung als dem amtlichen Kreisblatt eine Bekanntmachung folgenden Inhalts:

Polizeiverordnung

1. Sämtliche Straßen, Wege und öffentliche Plätze im Kreis Neuhaus-Oste werden für den Verkehr mit Automobilen
(Personen- und Lastwagen) gesperrt.
2. Ausnahmeanträge sind schriftlich zu stellen, eingehend zu begründen und werden nach gründlicher Prüfung nur in Ausnahmefällen genehmigt. 
3. Kraftfahrer haben erteilte Ausnahmegenehmigungen im Verkehr stets bei sich zu führen und auf Verlangen Polizeibeamten vorzuzeigen.
4. Alle Polizeidienststellen haben die Einhaltung dieses Verbots zu überwachen und Verstöße zu melden. Übertretungen werden mit Geldstrafen bis zu 300 Mark belegt.
5. Diese Polizeiverordnung tritt sofort in Kraft.

Neuhaus-Oste, 

Der Landrat Heidborn


Dieses Fahrverbot hatte im Amt Neuhaus jahrelang Bestand und wurde auch rücksichtslos durchgesetzt. Die im Kreisarchiv Otterndorf befindlichen Akten enthalten zahlreiche Anträge auf Ausnahmegenehmigungen, die zum Teil genehmigt, vielfach aber auch abgelehnt wurden. Bei der einsetzenden Kraftwagenentwicklung und vor allen Dingen, weil das Verbot örtlich begrenzt war, führte es auch damals schon zu kaum zu schildernden Erschwernissen. 
Es wurde erst aufgehoben als die große Zahl der Ausnahmeanträge der landrätlichen Behörde und den zu ihrer Begutachtung eingeschalteten Dienststellen übermäßige und wohl auch nicht mehr zu verantwortende Mühen und Schreibarbeiten verursachten. Ebenso werden auch viele bei höheren Behörden eingebrachte Beschwerden die Außerkraftsetzung veranlasst haben. 

Während der Geltungsdauer der Verordnung hat sich nun Folgendes zugetragen:

Landrat Heidborn war nicht nur ein tüchtiger und eigenwilliger Verwaltungsbeamter, sondern auch Freund eines guten Tropfens, 
den er fast ausschließlich in seinem Stammlokal bei Hotelier Theodor Ramm in der „Rammschen Klause“ einzunehmen pflegte. Dieses Gebäude gibt es übrigens auch heute noch. Heidborn gehörte der so genannten Honoratiorenvereinigung an. Zu diesem elitären Kreis gehörten Fabrikant Franz Wolff, Hofbesitzer Bacmeister, Postmeister Beckmann, Rektor de la Motte, Gemeindevorsteher Keßler, Apotheker von Ruge, Dr. med. Krusewitz, Gerichtssekretär Vollmers, Peter Fritz
Krusewitz, Amtsrichter Galle, Diedrich Plate, Steuereinnehmer Wottenberg, Schultheiß Segelken und weitere Personen. Im Kreisarchiv des Landkreises Cuxhaven befindet sich ein Foto dieser illustren Gesellschaft, aufgenommen um 1870. Heidborn gehörte damals noch nicht dazu.

Dieser allen öffentlichen Aufgaben aufgeschlossene Verein kam an ganz bestimmten Tagen der Woche im Klubzimmer bei Ramm zusammen. Hier wurde dann über die Ereignisse des öffentlichen Lebens, des Fleckens Neuhaus-Oste und seiner Umgebung diskutiert. Es wurden Witze erzählt, gelacht und auch mehr oder weniger alkoholische Getränke in Form von Wein, Grog, Bier usw. verzehrt. Politik war grundsätzlich verpönt.

So geschah es dann, dass an einem recht vergnügten Sonntagabend vor dem Hotel ein Auto anhielt. Alle Gäste des Hauses reckten die Hälse, spitzten die Ohren und sahen mit fragenden Augen auf den auch in der Runde befindlichen Landrat Heidborn. Dieser sprang auf, eilte an das Fenster der Gaststube und wartete ab, wer es wohl wagte, sein Gebot zu übertreten und sogar hier in Neuhaus am Sitz der Polizeibehörde anzuhalten und eine Wirtschaft aufzusuchen. Die Gaststubentür ging auf und als Fahrer des Autos kam der Fotograf Albert Eick aus Cuxhaven herein. Das war ein wohlhabender Mann und in der Region einer der ersten Besitzer eines Automobils, das von Jung und Alt allgemein bestaunt und bewundert wurde. Ob Eick das erlassene Fahrverbot für Autos gekannt hat, ist nicht bekannt. Heidborn stellte sich jedenfalls vor und verlangte von ihm die nach der Polizeiverordnung bei sich zu führende Ausnahmegenehmigung. Eine solche besaß Eick aber nicht und hatte sie auch nicht beantragt. Vorgebrachte Entschuldigungen wurden von Heidborn schroff zurückgewiesen, im Gegenteil, Eick wurde die Höchststrafe angedroht, wenn er sich unterstehen sollte, mit dem Auto weiter zu fahren. Die inzwischen zu feuchter Fröhlichkeit übergegangene Gesellschaft im Klubzimmer einschließlich Landrat Heidborn warteten nun gespannt auf das, was kommen würde.
Eick setzte sich mit anderen Gästen ins Gastzimmer und sie beratschlagten, was zu machen sei. Die angedrohte Geldstrafe von 300 Mark war auch damals viel Geld, andererseits wollte und musste der Fotograf mit seinem Fahrzeug auf alle Fälle wieder nach Cuxhaven. 

Nach vielem Hin und Her kam man schließlich zu dem Ergebnis, dass es nach der Polizeiverordnung verboten sei, mit Kraftfahrzeugen auf den Straßen des Amtes Neuhaus zu verkehren. Das hieße doch wohl, dass es strafbar sei, die Straßen mit Motorkraft und Motorengeräusch zu befahren. Nicht verboten sei es aber, ein Auto auf einer Straße lautlos zu bewegen. Nachdem man diese Feststellung von allen Seiten beleuchtet, lange darüber debattiert und vor allen Dingen auch genügend Grog eingenommen hatte, machte Theodor Ramm den Vorschlag, seinen Schimmel für die Weiterfahrt nach Cuxhaven bis zur Kreisgrenze vorzuspannen. Dieser Vorschlag wurde freudig aufgenommen und fand als durchaus praktikabel allgemeine Zustimmung. Stieg-Johann als Faktotum des Hauses erhielt den Auftrag, entsprechendes Geschirr zusammen zu suchen, dies an der Vorderachse des Autos zu befestigen und das Pferd vorzuspannen. Jetzt war alles bereit, um die Fahrt ohne Motorkraft und Geräusch fortzusetzen. Also bestiegen Eick und Stieg-Johann das Auto, nahmen auf dem Vordersitz Platz und unter allgemeiner Heiterkeit, auch der Gäste im Klubzimmer, setzte sich das „Ein PS“ Autogespann mit „hüh“ und Peitschenknall in Bewegung. 

Was für eine Miene Landrat Heidborn zu dieser Umgehung seiner Polizeiverordnung gemacht hat und wie er rechtlich darüber entschieden hat, ist nicht bekannt geworden. Dass dieses Gefährt in Neuhaus und in Belum großes Aufsehen und viel Lachen erregte, ist erklärlich. Es soll sich auf der Fahrt bis zur Kreisgrenze am „Hadler Baum“ auch noch manche amüsante Begebenheit zugetragen haben, die wohl erzählt wurde, aber nicht niedergeschrieben ist. Das Heidbornsche Verkehrsverbot verlor auf der Kanalbrücke bekanntlich seine Gültigkeit und so wurde denn der Schimmel dort wieder ausgespannt und nach einigen Ermunterungsgläsern im Schanzengasthaus zog Stieg-Johann mit seinem Zossen zu Fuß wieder nach Neuhaus zurück und Eick setzte seine Fahrt nach Cuxhaven mit Autokraft und Hupsignal fort.

Die Öffentlichkeit hat nicht erfahren, ob es über dieses Ereignis noch zu einer Straffestsetzung gekommen ist. Otto Heidborn ist 1905 in seiner Eigenschaft als Regierungsrat an die Regierung Danzig versetzt worden.
Die Polizeiverordnung und auch die Auto-Pferdefahrt haben aber nicht dazu beigetragen.




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