Ist Schweigen wirklich Gold?
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„Schweigen ist Gold“ - so lautet eine bekannte Redewendung. Doch was, wenn das Schweigen die Kontrolle über dich übernimmt?

Ist Schweigen wirklich Gold?


„Sie ist nur schüchtern.“
„Das verwächst sich.“
So oder so ähnlich hörte ich es als Kind immer wieder, wenn eine fremde Person mich ansprach und ich kein Wort herausbrachte. Ich glaubte es. Ich war ja auch ein Kind und die Erwachsenen würden es schon wissen. Jedoch wurde diese Symptomatik mit der Zeit nicht besser. 

Im Kindergarten war ich immer wortlos beim Spielen mit den anderen Kindern. Nur im äußersten Notfall konnte ich einen kurzen Satz sagen. Ein Satz aus dieser Zeit ist mir bis heute in Erinnerung geblieben. In der ersten Klasse flüsterte ich notfalls, saß ansonsten den ganzen Tag auf meinem Stuhl und bewegte mich nur, wenn es von mir verlangt wurde. Der Lehrerwechsel in der zweiten Klasse muss ein schockierendes Erlebnis für dieses kleine siebenjährige Mädchen gewesen sein. Kein Kopfschütteln oder Nicken war mehr möglich, Blickkontakt fiel noch schwerer. Dann, in der dritten Klasse, nach einem weiteren Jahr der Unwissenheit und einem Horrorerlebnis in den ersten Schultagen, endlich die Diagnose: Selektiver Mutismus

Jedoch weiß ich bis heute nicht, ob das Drängen dieser Lehrerin für die Diagnose ein Zeichen der Unterstützung oder ein „sie-ist-anders-ich-kann-damit-nicht-umgehen“ war. Dem weiteren Umgang mit mir zufolge war es eher Letzteres. So versuchte sie mit Druck mich zum Sprechen zu bewegen, was aber das Gegenteil bewirkte. Das Schweigen wertete die Lehrerin hingegen als Verweigerung oder bewusst eingesetztes Verhalten. 

Es fehlte vermutlich auch die Information über dieses Störungsbild, wobei es aber mit Sicherheit nicht nur daran lag, sondern auch am mangelnden Interesse seitens der Lehrerin. 

Doch was ist dieser selektive Mutismus eigentlich?

„Dieser ist durch eine deutliche, emotional bedingte Selektivität des Sprechens charakterisiert, so dass das Kind in einigen Situationen spricht, in anderen definierbaren Situationen jedoch nicht.“

So lautet die offizielle Beschreibung laut ICD-10. Was bedeutet das jetzt? 

In der Praxis schweigen die meisten Betroffenen in der Schule und reden zuhause, dort oft sogar übermäßig viel. Viele haben auch gute Freunde, die in der Schule als „Sprachrohr“ dienen. Die Kommunikation läuft auch viel über das Schriftliche oder über Nicken und Kopfschütteln. 

Zu vermeiden gilt es auf jeden Fall den Druck zu sprechen. Denn je höher die Erwartung an die Betroffenen ist, desto mehr fallen sie ins Schweigen. Sollte es doch gelingen, dass das Kind spricht, so ist auf jeden Fall zu empfehlen, einfach weiterzumachen. D

as Sprechen sollte nicht in den Mittelpunkt gerückt werden. Dies würde den Druck wieder erhöhen und dem Kind außerdem bewusst machen, dass es spricht, obwohl es das eigentlich in dieser Situation nicht kann. Ein Rückfall in dieses Muster ist dann nicht auszuschließen und das wollen wir aber doch alle vermeiden. Eventuelle Belohnungen für das Sprechen, wie es manche Therapieformen beinhalten, sollten erst im Nachhinein gegeben werden, wenn das Kind aus dem Mutismus-Freeze-Zustand wieder draußen ist, z.B. zu Hause. Dies hat den Vorteil, dass das Kind reflektierter an die Sache herangehen kann und die Gedanken nicht vom Mutismus kontrolliert werden.

Mit einer Therapie ist der Mutismus gut zu überwinden. Voraussetzung ist, dass sie so früh wie möglich beginnt, damit sich das Verhalten nicht zu sehr festigt. Die häufigste Form der Therapie ist die Verhaltenstherapie, jedoch ist gerade im Kindergarten- und Grundschulalter eine Sprachtherapie mit ausgebildeten Mutismustherapeuten sehr erfolgreich. Welche Therapie für einen selbst oder das eigene Kind die beste ist, muss jeder Einzelne für sich entscheiden. Das Wichtigste ist auf jeden Fall die Erfahrung des Therapeuten auf diesem Gebiet. 



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