Die digitale Welt
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Wir leben nicht mehr nur in einer Welt. Wir haben uns eine zweite Welt erschaffen, in der alles viel einfacher und bequemer läuft. Außerdem bietet sie eine tolle Zuflucht, sollte die wirkliche Welt mal zu viel werden.

Die digitale Welt

Wir müssen immer und überall erreichbar sein und idealerweise dabei noch Einblicke in unser Privatleben geben. Wir leben in der heutigen Zeit nicht mehr nur in einer Welt, sondern noch in einer zweiten, der digitalen Welt. Wenn es früher bei einem Spaziergang darum ging, einfach mal abzuschalten und die Natur zu genießen, geht es heute um andere Dinge. Es müssen Fotos gemacht und sofort auf Instagram und Facebook veröffentlicht werden. Am besten dann auch noch ein Selfie, bei dem man sich selbt so auffallend wie möglich in Szene setzt.



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Wir laufen mit dem Kopf gesenkt durch die wahre Welt und konzentrieren uns nur auf einen 5"-Bildschirm, der fast unser ganzes Leben bestimmt. Wir knüpfen über soziale Medien Kontakte und regeln über das Internet unser ganzes Leben. Wozu bitte noch in eine Bibliothek gehen, wenn es doch Wikipedia gibt?
Auch die Einkäufe können ganz bequem aus dem Wohnzimmer erledigt werden und die Versandhäuser wissen anhand unseres Kaufverhaltens sogar, was uns gefallen könnte. So bequem wie möglich lautet die Devise, wenn es darum geht, unser Leben zu gestalten. Auch die große Liebe wartet bestimmt irgendwo im Internet.


Dating 2.0


Wozu denn bitte noch in die Kneipe oder in eine Bar gehen, wenn ich jemanden kennenlernen möchte? Selbst Bekanntschaften können heute ganz einfach von der Couch aus geküpft werden. Ich schnappe mir einfach mein Smartphone, lade mit irgendeine der zahlreichen Dating-Apps herunter und schon kann der Spaß losgehen. Nur eben schnell noch ein Profil erstellen...

Natürlich nehme ich dafür die besten Bilder von Instagram -die mit den meisten Likes und Kommentaren-. Dann schüttel ich mir irgendeinen Text aus dem Ärmel, der mich -vielleicht- beschreibt und klicke dann noch an, dass ich die große Liebe suche. Schon kann ich mich wie ein Kind im Süßwarenladen austoben. Wie auf Karteikarten einer Agentur werden mir Frauen angezeigt, durch die mich fröhlich "wischen" kann. Ein paar Mal nach links und ein paar Mal nach rechts und schon habe ich manchen meine Aufmerksamkeit in Form eines Herzens zukommen lassen.

Janine, 28 Jahre alt und Studentin (Name, Alter und Beruf frei erfunden) hat anscheinend auch nach links gewischt. Wir haben ein Match und das, obwohl ich auf meiner Couch liege und nebenbei meine Lieblingsserie schaue. Wie großartig ist das denn? Das Eis ist gebrochen und dafür musste ich nicht einmal eine Tür aufhalten oder sonst etwas, ich habe nur gewischt. Wir schreiben, tauschen unsere Nummern aus und schreiben bei WhatsApp weiter.

Ob Janine nicht vielleicht in Wirklichkeit doch Klaus der Triebtäter ist oder sonst irgendeine komische Person, weiß ich nicht. Das Profilbild -es entspricht ja auch immer der Wahrheit- ist auf jeden Fall eins von denen der Dating-App.

Wir haben im Internet ohne Probleme die Möglichkeit, eine andere Identität anzunehmen und uns als jemand völlig anderes auszugeben.


Digital vs. Realität


Vielleicht schenken wir der digitalen Welt so viel Aufmerksamkeit, weil wir diese dort auch schneller bekommen können. Niemand interessiert es für den Moment, wenn wir eine bekannte Persönlichkeit treffen. Machen wir jedoch mit diesem Menschen ein Selfie und posten dies in den sozialen Medien, sind wir über Nacht -wenn auch nur temporär- bekannt. Es ist eben viel leichter in dieser zweiten Welt etwas zu erreichen und jemand zu sein, der wir so einfach nicht sind.

Wozu noch in die Videothek laufen, wenn wir für den Filmabend doch einfach nur eine Internetseite öffnen müssen? Dass die kleinen Videotheken und andere Läden dadurch vielleicht schließen müssen und ein Teil der wirklichen Welt -jetzt nicht nur auf Videotheken bezogen- mit ihnen stirbt, kann uns ja egal sein.

Schließlich leben wir ja nicht mehr wirklich in ihr.



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